Dass es bei einer Architekturveranstaltung mit den Worten „alt“ und „neu“ im Motto um Vergangenheit und Zukunft geht, ist klar und wichtig. Entscheidend für die Entwicklung unserer baulichen Umgebung ist jedoch das kleine Stückchen Gegenwart dazwischen: das JETZT aktiven Handelns. Ganz besonders liegt das den zahlreichen Initiativen und Akteur*innen um das Thema Leerstand und Zwischennutzung am Herzen, die im Rahmen der Architekturtage in mehreren Bundesländern Programmpunkte gestalten.
Tobias Hagleitner | Architektur & BauFORUM | 04/2014
In einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft ist es nur natürlich, dass auch der Raum, gebaute Häuser wie unbebaute Flächen, im sogenannten Spiel von Angebot und Nachfrage einem gewissen Verwertungsdruck unterliegen. Umso mehr erstaunt es, dass Geschäftslokale, Häuser, ganze Liegenschaften manchmal über Jahre leer stehen, nicht selten in den besten Lagen. Die Ursachen dafür sind vielfältig, die Begründungen unterschiedlich: so gibt es häufig überhöhte Preisvorstellungen an Miete oder Kauf, es kann sein, dass komplexe Vertragsbedingungen eine Pacht erschweren oder vielleicht scheint eine nötige Sanierung nicht leistbar; es kommt vor, dass Eigentümer*innen die Substanz leer stehen lassen bis Erben übernehmen. Die allerdings zerstreiten sich gelegentlich – Uneinigkeit bei mehreren Miteigentümer*innen ist in vielen Fällen Grund genug, Besitz leer stehen zu lassen. Gerade bei institutionellen Eigentümern gibt es auch „strategischen“ Leerstand: Immobilien werden ganz bewusst für eine Zeit mit besserem Preisniveau vorgehalten.
Das sind einige Beispiele aus der eigentumsseitigen Sicht der Wirklichkeit. Die andere Seite, das sind die vielen oft jungen Leute, die die mangelnde Verfügbarkeit von leistbarem Raum beklagen. Ganz abgesehen von der Frage günstigen Wohnraums fehlen erschwingliche Lokale um neue Geschäftsideen und Produkte zu erproben, es mangelt an Platz für Kunst und kreatives Handwerk, an Ateliers und Ausstellungsflächen. Zivilgesellschaftliche Initiativen, junge Vereine und Netzwerke, suchen Räume für ihre Aktivitäten nah am öffentlichen Leben der Stadt oder Gemeinde. Die Fülle an Ideen ist dabei mit der verführerischen Leere ungenutzter Räume konfrontiert – erste Annäherungsversuche zwischen der drängenden Nachfrage und dem Angebot, das sich noch ziert, werden mit dem Konzept der „Zwischennutzung“ angestrebt.
Ein Beispiel für Zwischennutzung: das RAUMSCHIFF
Ein Grüppchen junger Leute genießt die Nachmittagssonne auf dem leicht erhöhten Plateau in der Nordostecke des Linzer Hauptplatzes. Drinnen im RAUMSCHIFF versorgen sich ein paar am selbst gebauten Tresen mit Kaffee und Kuchen, nebenan gibt es eine Ausstellung und im hinteren Bereich einen gemeinschaftlich betriebenen Shop. Es ist einige Jahre her, dass hier im „Brückenkopfgebäude Ost“ das Finanzamt eingemietet war. Auch die Kulturhauptstadt 2009, die in dem attraktiven Lokal mit einem Infopoint aufwartete, ist schon fünf Jahre her. Während weiterhin unklar bleibt, wer die künftigen Hauptmieter sein werden, wurde von der Bundesimmobiliengesellschaft BIG nun dem beharrlichen Engagement einer Gruppe aus dem Umfeld der Kunstuniversität nachgegeben und die temporäre Nutzung des Leerstands für einige Monate (zu vergünstigten Konditionen) ermöglicht. Dem im Vorjahr gegründeten Verein geht es nicht nur darum, eine Ausstellungsplattform für Studierende zu sein. Das RAUMSCHIFF sucht den Austausch mit der Stadt und Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen. So wird einerseits mehr Öffentlichkeit für die eigene Kunst angestrebt (was mit den großen Fensterbögen des Raums wunderbar gelingt), zugleich entstehen neue Netzwerke und Kooperationen. Die Zeit der Zwischennutzung wird als Laborphase verstanden und zum Erproben und Erlernen alternativer Handlungs- und Geschäftsmodelle genutzt. Und vor allem: es belebt die Stadt und schafft einen Ort von erhöhter urbaner Dichte, den gerade eine Mittelstadt wie Linz fürsLeben dringend braucht.
„Tatort Leerstand“ in Linz
Dementsprechend widmet das afo architekturforum oberösterreich den Samstag während der Architekturtage ganz dem Thema Leerstandsnutzung. Neben einem Kinderworkshop zum „Traum vom Raum“ lädt die Linzer Initiative „Fruchtgenuss – Verein für Leerstandsangelegenheiten“ zum Stadtspaziergang und anschließender Fragestunde mit Expert*innen zu rechtlichen und organisatorischen Belangen. Die Gruppe beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem Phänomen, verzeichnet ungenutzte Gebäude und bietet sich als Vermittlungsplattform zwischen Nutzer*innen und Eigentümer*innen an – keine leichte Aufgabe, da hartnäckige Vorbehalte und Bedenken erst auszuräumen sind: „Es gibt einfach noch wenig Erfahrung mit Zwischennutzung,“ meint Margit Greinöcker von Fruchtgenuss, „es geht uns deshalb auch um Bewusstseinsbildung. Wir wollen auf der Tour zeigen, wieviel attraktive Substanz mitten in der Stadt leer steht, werden aber auch interessante Zwischennutzungsprojekte besuchen.“ Dazu gehört neben dem RAUMSCHIFF etwa auch der luft*raum, eine offene Werkstätte von 150m², die im Vorjahr von engagierten Leuten organisiert und eingerichtet wurde und inzwischen von sieben Vereinen betrieben wird.
„Statt Leerstand Stadt“ in Graz
In der steirischen Hauptstadt werden Lisa Maria Enzenhofer und Anna Resch von LENDLABOR mit Interessierten eine Fahrradtour zu leerstehenden Objekten unternehmen. Die Beiden setzen sich seit ihrer gemeinsamen Diplomarbeit an der TU Graz mit Leerständen und Brachflächen auseinander. Im Vorjahr waren sie mit einer Ausstellung zum Thema im Grazer Haus der Architektur vertreten. Bei ihren Projekten im und um den öffentlichen Raum rücken auch sie das soziokulturelle Potential von Leerstand ins Zentrum: „Wir betrachten leerstehenden Raum als bedeutende Ressource für die Stadt“, sagt Anna Resch. Und das nicht nur im ökonomischen Sinn. Genauso wird den kulturellen und emotionalen Werten nachgespürt und den kollektiven Erinnerungen, die an einem Ort zu finden sind. „Die Zeitfenster, in denen Räume nicht genutzt werden, ermöglichen die Entfaltung von Ideen“, meint die Architektin, „es geht darum, neue Perspektiven und Handlungsweisen zu etablieren und gewohnte Regeln des Zusammenlebens neuartig zu interpretieren.“ So gab es schon „statt.leerstand.kino“, „statt.leerstand.theater“, Picknicks und Konzerte. Bei der Spazierfahrt am Samstagnachmittag während der Architekturtage werden exemplarische Leerstände im Grazer Stadtgebiet besichtigt, darunter ein denkmalgeschützter Wasserturm, eine brachliegende Mühle, eine ehemalige Kaserne und weitere Zeitzeugen der ehemaligen Murvorstadt.
Die Lehre aus der Leere
Auch außerhalb von Graz und Linz ist das Thema bei den Architekturtagen präsent. Im Burgenland wird im Rahmen einer Ausstellung das Potential der typischen, vielfach verfallenden Streckhäuser untersucht, in Innsbruck werden Brachen in den Blick genommen, die sonst zu Unrecht ignoriert werden, in Vorarlberg rufen die Bregenzer Vereine „Tankstelle“ und „Bodenfreiheit“ den Bedarf an Freiraum und Leerstand ins Bewusstsein und in Salzburg wird ein Altstadthaus geöffnet und bespielt. Das vielseitige Programm verdeutlicht die vielen Facetten des Themas und dessen aktuelle Relevanz. Anna und Lisa von LENDLABOR bringen die große baukulturelle Bedeutung unternutzter Baubestände mit einer einfachen Formel auf den Punkt: „Zuerst 100 Prozent recyclen, dann neu bauen!“ Während der Nachhaltigkeitsdiskurs in der Architektur längst in einem eigenen Wiederverwertungskreislauf aus Energieoptimierung, Kennzahlen und Zukunftsmaterialien verfangen ist, liegt der Landschaftsverbrauch für Siedlungs- und Verkehrsflächen in Österreich weiterhin bei vierundzwanzig Hektar pro Tag. In dieser Hinsicht ist die Raumpionierarbeit der hier genannten und vieler weiterer Initiativen ein wichtiger Vorstoß in Richtung eines aktualisierten und zukunftsweisenden Verständnisses von Architektur, das im Stande ist, Planen und Bauen außerhalb des überkommenen Wachstumsparadigmas zu denken und weiter zu entwickeln.