STEYR. Es gibt sie noch: Architektur als „Kunst des Raums“ – nicht brav und unterwürfig, sondern fordernd und sinnlich. Ein Vertreter dieser Spezies unter der Lupe.
Tobias Hagleitner | OÖNAchrichten | 04.10.2014
Angenommen, Sie leben in einem Hochhaus. Es mag eine schöne Wohnung in einem gut gelungenen Gebäude sein. Dennoch könnte es sein, dass Sie manchmal an einen eigenen Garten denken. Es wäre möglich, dass Sie sich nach Gras zwischen den Zehen sehnen oder sich zwei Bäume wünschen, zwischen die Sie Hängematte oder Slackline spannen. Beim Steyrer Architekten Gernot Hertl könnte es so gewesen sein. Die Suche nach einem Garten führte ihn zu dem Grundstück, das sonst niemand wollte: eine steile, verwilderte Böschung, ein seit vielen Jahren verfallendes altes Bauernhaus in der Mitte
Das war der Ausgangspunkt. Das ursprüngliche Vorhaben „Gartenhaus“ war aber bald nur noch Arbeitstitel. Die Beschäftigung mit der historischen Substanz, in Teilen mehr als 350 Jahre alt, und die Begeisterung für die Eigenheiten des Grundstücks regten zu einem weit komplexeren Raumarrangement an, aus dem sich neue Vorstellungen und Nutzungen ergaben. Wenn es schon eine „Außenstelle“ im Grünen geben soll, dachte der Architekt, warum nicht auch für die Arbeit nutzen: „So ein Raum ist ideal als Laboratorium für gemeinsame Entwurfsarbeit, oder um aufwändige Wettbewerbsaufgaben in geschützter Klausuratmosphäre zu diskutieren.“
Der Platz schien außerdem wie geschaffen für repräsentative Anlässe. Und von da war es kein großer Schritt, auch öffentliche Nutzungen für das künftige Gebäude in Betracht zu ziehen. Das Haus sollte zusätzlich kulturelles „Refugium“ sein mitten in einem Stadtteil, der nicht gerade für seine Standort-Attraktivität berühmt ist (Ennsdorf kämpft seit Jahren mit Verfallserscheinungen, Leerstand und Verkümmerung der Erdgeschoßnutzungen).
Refugium, Klausur, Laboratorium – auf einen einzigen Namen für das Objekt will sich niemand festlegen. Dem Typus Klausur oder Kloster kommt es nah: Eine hohe Betonmauer schließt zur Straße ab. Die ungefaste Oberkante ohne Mauerblech wirkt als feine steinerne Linie, die das hervorquellende Grün der Obstbäume dahinter besonders stark zur Geltung bringt – ein Urmotiv des umfriedeten Gartens. Ein Rücksprung mit historischem Bildstock zeigt den Eingang an. Die kleine Nische eröffnet eine spannende Abfolge von Plätzen und Räumen unterschiedlichen Zuschnitts, die sich quer durch das Haus bis zum tiefsten Punkt des Grundstücks am Uferweg der Enns fortsetzt.
Die unvermittelte Abzweigung in ein verstecktes Gässchen, ein Durchgangstor zu einer steilen Treppe Richtung Ufer, ein unerwartet großer Innenhof, der faszinierende Kontrast von enger Gasse, weitem Platz, das Nebeneinander von Zeiten und Stilen – all diese Motive gibt es in der Stadt, und es gibt sie auch im „Gartenhaus“. Das gilt auch für die Art und Weise, wie die neue Betonkiste quer über die Außenmauern des Bestands gelegt wurde. Die Auskragung Richtung Fluss erinnert an die Erkerform alter Steyrer Handelshäuser. Was damals dazu diente, den Flößbetrieb auf dem Wasser im Auge zu haben, ist heute genauso willkommen: Überblick und gute Aussicht.
Raum als sinnliches Ereignis
Innen fühlt sich die Kiste nie „kistig“ an. Das liegt an der vielschichtigen Überlagerung des Neuen mit der alten Struktur, an der großen Bandbreite an Durchbrüchen, Öffnungen und Nischen, die immer wieder neue und interessante Raumsituationen ergeben: der große Raum im unteren Geschoß mit dem Hof als Gegenstück unter freiem Himmel, der überraschende Lichteinfall von oben durch den schmalen Gebäudeschnitt quer durch das Haus, die Treppe zwischen alter Stein- und durchbrochener Kunststeinmauer, ein Portal in den Farngarten, kaum mehr als einen halben Meter breit und fast fünf Meter hoch.
Darum geht es: Raum als sinnliches Ereignis. Die sonst allerheiligste „Energieoptimierung“ hat bei einem solchen Konzept keinen Platz. Es ist ein Haus, keine Maschine. „Es braucht auch Extreme und Zuspitzung, um die sinnliche Wirkung von Raum herauszuarbeiten“, sagt Hertl über Architektur, die ihm gefällt: „Menschen sind eher bereit, sich komplexen, aber spannenden Räumen anzupassen als banale Räume nach ihren Wünschen passend zu gestalten.“
In fünf Jahren als Architekturkritiker der OÖNachrichten, von 2014 bis 2019, sind insgesamt rund 70 Beiträge erschienen.