Oder: Spezifische Antworten auf eine allgemeine Frage
Gmundens Probleme sind keine Besonderheit. Der unerhörte Durchzugsverkehr, ein paar leerstehende Geschäfte, ein Quäntchen allgemeine Unzufriedenheit – das gibt es in vielen Städten dieser Größe, die sich als lokale räumliche Einheit in einem zunehmend global erlebbaren Raum behaupten müssen. Konsumgüter, Institutionen, Individuen haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Bindung an den einen, bestimmbaren Ort verloren. Waren und Menschen sind in einem zuvor kaum da gewesenen Maß beweglich, eben ortsunabhängig geworden.
Tobias Hagleitner | 09/2011
Diese Hinterlassenschaft des 20. Jahrhunderts kann man beweinen oder lieben. Jedenfalls wurden damit die Orte selbst – und gerade die Klein- und Mittelstadt – als Konzept in Frage gestellt: Was hat „Kleinstadt“ denn noch für eine Relevanz? Was ist das noch mehr als ein hübsches Freilichtmuseum mit historischen Fassaden, ein touristischer Marketing-Gag, eine überkommene Verwaltungseinheit aus vergangenen Tagen? Wenn es keine Ortstafeln gäbe, wüsste doch sowieso niemand mehr, wo der eine Provinzort aufhört und der andere beginnt! Was soll eine solche Stadt denn bitte mehr sein als ein Wettbewerbsstandort unter anderen im internationalen Straßengeflecht, der sich nach den Gesetzen des Marktes einzurichten hat?
Dieses Fragezeichen hat die Moderne frech hinter Städte wie Gmunden gestellt. Es ist die Frage nach der eigentlichen, spezifischen Bedeutung eines Orts, die zum unausweichlichen Schwellenwächter kleinstädtischer Zukunft geworden ist. Die Präzision der Antwort wird darüber entscheiden, ob europäische Kleinstädte als ununterscheidbare Ansammlung von Gebäuden im suburbanen Brei versinken oder auch künftig als Siedlungs- und Lebensraum von hervorragender Qualität wahrnehmbar sein werden. Bei aller Schwierigkeit der Situation gibt es eine gute Nachricht: die Bedeutung einer Stadt ist nicht im Raum „festgeschrieben“, sondern sie kann von ihren Nutzer*innen immer neu gefunden und entwickelt werden, wie bei einer großen Erzählung, die von Epoche zu Epoche anders gelesen und verstanden wird.
Gerade in einer kleineren Stadt wie Gmunden besteht die Chance, dieses neue „Lesen“ als gemeinsamen Prozess der Stadt-Bewohner*innen zu praktizieren und so zu einer eigenständigen und spannenden Interpretation zu gelangen. Dazu müssen allerdings Experimente ermöglicht und neue Nutzungsweisen zugelassen werden. Nur sie können der räumlichen Struktur ihr erzählerisches Potential, ihre neuen Bedeutungen entlocken und damit die Identität des Orts mit einer unverwechselbaren Geschichte erhalten. Einige Vorschläge und Ideen in diesem Handbuch verdeutlichen, wie dies konkret realisiert werden kann.
Es wäre wünschenswert, wenn sich in der Stadt Gmunden künftig Projekte mit dieser kreativ- interpretatorischen Aufmerksamkeit für das Bestehende durchsetzen würden gegenüber dem kurzfristig gedachten Einzelvorhaben, der eingekauften Idee aus Expertenhand, dem Investmentobjekt von der Stange. Denn auf längere Sicht leisten die letztgenannten dem Bedeutungsverlust der Stadt Vorschub, indem sie Dinge realisieren, die genauso gut anderswo, an jedem beliebigen Ort stehen könnten. Und es ist eben nicht beliebig, sondern es ist genau dieses eine Gmunden am Traunsee, um das es in Zukunft gehen sollte.
Original erschienen in: Vision Gmunden Handbuch, Kunstuniversität Linz, 2012, S. 94 | Zum Abschluss des Projekts „Vision Gmunden. Zukunftsstrategien für die Stadt im regionalen Kontext“.