Ein Appell zur Überwindung überkommener Bilder vom Wohnen und eine Kritik der unablässigen, zunehmend untragbaren baulichen Reproduktion dieser Klischees.
Tobias Hagleitner | 01/2023
Wie geht es Ihnen mit „Wohnbau“? Was kommt Ihnen spontan in den Sinn? Ich darf raten: Sie sehen weiße oder graue, vielleicht beige Klötze, mit einem flachen Dach, Sie sehen Fensterlöcher, reihenweise ausgeschnitten, und ein paar Balkone, alles sorgfältig verteilt in einem fahlen Rechteck von Fassade – von mir aus auch im Holzgewand. Außerdem vermute ich, Sie geraten in eine einigermaßen technische, in eine geschäftsmäßige, ja, bürokratische Stimmung, wenn Sie von „Wohnbau“ lesen. Ein großer Unterschied zur Gefühlsregung bei „Aktenschrank“ oder „Schuhkarton“ wird kaum vorhanden sein.
Okay, ein Haufen Klischees! Aber fahren Sie durchs Land, am besten mit dem Rad, und schauen Sie genau. Sie werden feststellen: „Wohnbau“ IST Klischee! „Wohnbau“ ist der allgemeine, wenig hinterfragte Konsens, serienmäßig klischeehafte Unterkünfte für klischeehafte Menschen in klischeehaften Biografien zu produzieren – ob gemeinnützig oder privat errichtet, macht wenig Unterschied.
Wer „Wohnbau“ entwickelt, plant oder baut, akzeptiert insgeheim das Unvermögen, mit der tatsächlichen Komplexität und Vielfalt menschlicher Ansprüche und Bedürfnisse räumlich sinnvoll umzugehen. „Wohnbau“ bedeutet so gut wie immer eine rationalistische, funktionalistische Verkürzung, die den Wunsch nach einem guten Leben und Zusammenleben nur halbherzig bedient.
Aber bleiben wir fair: Dass wir begonnen haben, zu vereinfachen, reduzierte Formen als „Typen“ zu entwickeln und massenhaft in Serie zu produzieren, das hat uns eine Weile gut vorangebracht. Es war eine Notwendigkeit, die sich aus den Umwälzungen der Industrialisierung, aus dem enormen Bevölkerungs- und Stadtwachstum seit Mitte des 19. Jahrhunderts ergab.
„Wohnen“ musste als eigenständige funktionale Kategorie definiert und von anderen Nutzungsansprüchen im Raum getrennt werden, um den massenhaften Bedarf rationell, zeit- und kosteneffizient, im Grunde fabrikartig, zu decken. Das war quer durchs 20. Jahrhundert eine Erfolgsgeschichte, mit einer ersten Blüte zwischen den Kriegen, weiter in der gesamten Phase von „Wiederaufbau“ und „Wirtschaftswunder“ ab den 1950ern. Der „Wohnbau“ machte als zentrales Instrument im Werkzeugkasten des modernen Städtebaus die räumliche und gesellschaftliche Transformation nach den Idealen des industriekapitalistischen Zeitalters planbar, politisch regulierbar und beherrschbar.
Das Konzept erweist sich jetzt aber, wie so vieles, das einmal gut gemeint und oft auch gut gemacht war, als krisenhaft und problematisch. Dass uns jeder neue „Wohnbau“ mit seinem Bedarf an grauer Energie und Boden ein Stück weiter in die Klima- und Biodiversitätsklemme schraubt, ist dabei nur das erste einer ganzen Reihe von Problemen.
Hier ein zweites: Mit der monofunktionalen Fokussierung auf das „Wohnen“ und der kontinuierlichen Ökonomisierung und Standardisierung gingen etliche räumliche Qualitäten und damit sozialräumliche Beziehungen perdu. Was zum „Wohnen“ gehört und wichtig ist, wurde vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer enger definiert. Der Rest wurde als „Kostentreiber“ abgetan und wegrationalisiert. Nur einige Verluste: großzügige Stiegenhäuser oder hohe Räume; freundliche Eingangsbereiche, einladende Gärten und Innenhöfe; Gemeinschaftsräume, Laubengänge, Dachlandschaften; ortsräumliche Einbettung … Vom ästhetischen Verfall zu schweigen, etwa davon, dass die Fassade durchwegs zur seelen- und ideenlosen Außenwand verkommen ist.
„Wohnbau“ ist drittens obsolet, weil die sozialen Strukturen und damit die Wohnbedürfnisse unumkehrbar und weiterhin im Umbruch sind. Unerschütterlich wird dennoch für die imaginäre Kernfamilie geplant und gebaut, obwohl die wenigsten so leben – genau genommen, auf die gesamte Lebenszeit gesehen, niemand. Das sture Beharren auf unterstellten Lebensmodellen, die es so kaum gibt – und in Reinform auch nie gab –, verursacht unpassende Grundrisse, überhöhten Flächenbedarf, soziale Entmischung, Vereinsamung, Verödung und so weiter. Zugleich werden freie Lebensgestaltung, soziale Innovation und kreative Entfaltung erschwert oder verunmöglicht.
Viertens ist es – eben deshalb – dem „Wohnbau“ nicht gelungen, die Sehnsucht nach dem Eigenheim zu tilgen. Der Drang zum Hausbau ist ungebrochen, mit allen problematischen Folgen: ungehemmter Bodenverbrauch, flächendeckende Zersiedelung, explodierende Infrastruktur, motorisierter Individualverkehr. „Wohnbau“ ist als Gegenmittel offensichtlich ungeeignet, auch weil die hiesige Aufstiegserzählung der g’hörigen und fleißigen Vorarlbergerinnen und Vorarlberger im eigenen Haus zu enden hat, nicht in einer Wohnung und schon gar nicht zur Miete.
Noch ein Fünftes: „Wohnbau“ wurde spätestens seit der Finanzkrise von einer Funktion der Planung in eine Funktion des Kapitals verwandelt, zur Handelsware transformiert. Umkonfektioniert zum Anlageobjekt, bedroht „Wohnbau“ die Grundlagen des demokratischen Prinzips und des sozialen Friedens. Raum- und Bodenpreise werden für eine breite Mehrheit unbezahlbar, während sich Grund, Vermögen und damit Macht in Händen einer verhältnismäßig kleinen Gruppe immer stärker konzentrieren.
Die kleine Zusammenschau ohne Anspruch auf Vollständigkeit legt nahe: Den „Wohnbau“ werden wir aus dem Gefängnis seiner politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Determiniertheiten nicht mehr befreien können. Es gibt nur eine logische Konsequenz: Hören wir auf damit! Überwinden wir das überkommene Klischee vom „Wohnen“.
Rufen wir stattdessen eine „Lebensraumoffensive“ und eine „Lebensraumförderung“ aus. Machen wir die Produktion von vital genutzten, für alle leistbaren Räumen zum gesellschaftspolitischen Ziel, quer durch die Disziplinen, Ressorts und Fördertöpfe.
Ginge es um „Lebensraum“ statt um „Wohnbau“, würden wir viel genauer, mit echtem Interesse und mit Offenheit hinschauen, wer wir tatsächlich sind, was wir tatsächlich brauchen. Wir könnten sehen, dass der „Bedarf“ an „Wohnbau“ lediglich ideologische Interpretation ist für das Bedürfnis, gut zu leben und selbstverständlich gut zu wohnen. Wir könnten erkennen, dass die möglichst kostengünstige und effziente Verwahrung von möglichst produktiven Körpern nicht länger unser Ziel sein kann und würden den Raum nach und nach im Interesse des Gemeinwohls neu organisieren.
Dann würden wir beginnen, das Unbebaute genauso wichtig zu nehmen wie das Gebaute. Das Öffentliche wäre so hoch bewertet wie das Private. Das menschliche Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft bekäme genauso seinen Raum wie jenes nach Rückzug und Intimität. Wir würden uns als Teil der Natur verstehen und unsere existenzielle Abhängigkeit von Qualität und Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen zur Grundlage allen Planens machen. Das wäre „Lebensraum“.
Um das zu schaffen, müssten wir zuerst einmal in Ruhe überlegen – gemeinsam mit all der Architektur- und Handwerksexpertise, die es (noch) gibt in diesem Land. Wir müssten überlegen, wie wir den bereits gebauten kostbaren Raumvorrat gestalten und beleben, statt reflexartig neuen „Wohnbau“ auf den Markt zu schmeißen. Wir müssten nach politisch klugen Wegen suchen, das Übermaß an finanzialisiertem Raum zu resozialisieren. Widmen, genehmigen und bauen dürften wir nur noch ausnahmsweise und nur bei Nachweis von tatsächlichem, lebendigem Bedarf. Und den Neubau, den wir bräuchten, müssten wir auf Jahrhunderte konzipieren und auch so kalkulieren.
Das wäre Baukultur der Gegenwart und Zukunft, jenseits von Klischees. Das ergäbe Lebensräume, jenseits von „Blöckle“, „Aktenschrank“ und „Schuhkarton“. Wenn uns das gelänge, könnten wir vielleicht sogar den Traum vom Einfamilienhaus vergessen. Utopisch und naiv? Vielleicht. Realistisch und notwendig aber auch.